Apnoe von Ixtli ================================================================================ Kapitel 22: Die Brechung des Lichts ----------------------------------- "War Jules die letzten Tage irgendwie anders als sonst?" "Weiß nicht. Wie immer halt." Nate löste seine Blicke kurz von der endlos wirkenden Blechschlange vor sich, die sich hupend und drängelnd durch die Straße schob. Er sah, wie sich Gabes Mund öffnete und unterbrach ihn, noch ehe Gabe Zeit hatte, auch nur eine einzige Silbe auszusprechen. "Bevor du etwas sagst, ja, ich habe da wohl was übersehen. Kommt nicht mehr vor." "Ich wollte mich entschuldigen", warf Gabe ruhig ein und wich Nates verdutzten Blicken aus. "Dafür, dass du jetzt ihre Schicht übernehmen musst und dafür, dass du das ganze Theater einfach so mitmachst." Gabe schwieg einen Augenblick lang, in dem Nate abzuschätzen versuchte, ob da noch ein Aber kam. "Es ist nicht deine Aufgabe, nach Jules zu sehen, sondern meine", war alles, was folgte. "Alles gut, Mann, aber hör auf dich so gruselig zu benehmen. Das macht mir mehr Angst, als dein Gezeter." "Mein Was?" Treffer! Nate lachte auf und sah hinüber zu Gabe, in dessen Gesicht sich gerade das abzuzeichnen begann, was er davor angesprochen hatte. Aber noch während er den Wagen an den Straßenrand lenkte, verschwand die zornige Falte zwischen Gabes Augenbrauen. Nate beugte sich zu seinem Beifahrer hinüber, der ihn allerdings nur müde lächelnd ansah. "Erwartest du jetzt noch einen Kuss für diese Frechheit?" "Ja", antwortete Nate mit seinem liebenswürdigsten Lächeln, doch den erhofften Gefallen tat ihm Gabe nicht. Gabes Hand tastete nach dem Türgriff. Das Licht über ihnen flackerte auf, als sich die Tür ein Stück weit öffnete und der feucht kühle Abendwind mitsamt dem unausweichlich folgenden modrig-sauren Gassengestank, an den er sich schon viel zu sehr gewöhnt hatte, den Innenraum flutete. "Komm nach der Schicht bei uns vorbei." "Jederzeit", willigte Nate schneller ein, als gewohnt. Wer wusste, wie lange Gabes Angebot noch galt... "Ich habe das kleine Sofa schon vermisst, das einem so toll die Wirbel ausrenkt und an der falschen Stelle wieder einrenkt." "Ich habe dich nur zum Übernachten eingeladen", dämpfte Gabe Nates gerade überschäumenden Enthusiasmus, der wie ein Rennpferd kurz nach dem Start davon galoppierte. "Nur übernachten. Sonst nichts." "Wenn's sein muss", seufzte Nate und verdrehte theatralisch die Augen, was Gabe augenblicklich grinsen ließ. "Bis wir mal alleine sind", ergänzte er versöhnlich und wollte endgültig aussteigen, doch Nates Hand schloss sich schnell um seinen Unterarm, ehe er aus dem Auto verschwinden konnte. Sanft wurde Gabe wieder ein Stück weit in den Innenraum gezogen, bis er Nate nahe genug war. "Soll ich wirklich nicht mitkommen? Wegen-" "Alvaro?", las Gabe Nates Gedanken. Seine neuentdeckte Besorgnis rührte Gabe irgendwie. Es ging ihm auf den Geist, aber gerade wirkte es zu echt und kein bisschen wie Eifersucht. "Nein, alles gut." "Ich weiß, er ist harmlos", witzelte Nate bitter, der sich noch gut an ihr Gespräch im Diner erinnern konnte, und schickte seinen Worten ein dünnes Lächeln hinterher, das er sich regelrecht abringen musste. Widerstrebend ließ er Gabe los, bei dem das Lächeln wieder dieses Unnahbare annahm, ehe dessen Stimmung völlig kippte. Sie kippte die letzte Zeit für seinen Geschmack viel zu schnell und das meistens schon bei gefühlten Kleinigkeiten. "Bis später", verabschiedete sich Gabe kurz und knapp und schlug die Tür hinter sich zu.   Alvaro hörte Gabe schon als er das Hoftor öffnete und kurz darauf seine eiligen Schritte die Treppe hochkamen. Gabe war alleine, was ein weiterer Punkt war, den Alvaro ungewollt registrierte, weil sich sein gesamtes Denken schon an diese abgewrackte Umgebung angepasst hatte, in der man auf alles gefasst sein musste - oder sollte. Er hatte schon fast damit gerechnet, dass ihn Nate begleiten würde. Nicht weil Gabe Angst vor ihm hatte, sondern weil Nate ihn nicht abschätzen konnte. Und das sprach sogar für Nate, der es gewohnt war, dass ihm die unangenehmsten Gäste, die das The Gorge betraten, gegenüber standen und er trotzdem - wenn auch gespielt - freundlich sein und zu viele Sachen ignorieren und überspielen musste, bei denen Alvaro schon längst die Geduld verloren hätte. Dass er Alvaro nicht traute, war schon fast eine Auszeichnung. Er sah zu Jules hinüber, die etwas erschöpft, aber immerhin abgelenkt durch das laufende Fernsehprogramm neben ihm auf dem Sofa saß und hin und wieder einen winzigen Schluck von ihrer Cola trank. Sie sah nicht mehr ganz so verwirrt und benommen aus, wie vor dem Anruf bei Gabe, und in der Zeit, in der Alvaro das Wohnzimmer aufgeräumt hatte, hatte ihr Gesicht auch wieder eine gesündere Farbe angenommen. Doch bis auf das leise Danke, als er ihr das Glas zum zweiten Mal aufgefüllt hatte, hatte sie nichts mehr gesprochen. Er hatte keine Ahnung, was das war, das Jules von einem Augenblick auf den anderen sämtliche Energie geraubt hatte, aber das würde sich gleich klären. Das erste, was Gabe bemerkte, als er ihre Wohnung betrat, war Jules, die zum Glück äußerlich seelenruhig auf dem Sofa saß und fernsah. Das zweite war die seltsame Vertrautheit zwischen ihr und Alvaro, der neben ihr saß und ihr eine ihrer unvermeidlichen Snacktüten hinhielt. Doch das dritte, das Gabe wirklich aus dem Konzept brachte, weil es ihn nicht nur überraschte, sondern jeden Kommentar zu Alvaros Erscheinen hier im Keim erstickte, war das fehlende Holster. Als ob er wirklich mal privat hierher gekommen wäre. Alvaro fühlte sich wie ein Fremdkörper unter Gabes düsteren Blicken, die kurz an ihm hinabglitten und gleich darauf wieder ihren Weg hinauf zu seinen Augen fanden, ohne dass er seine Gedanken auch nur erahnen konnte. Wortlos ging Gabe zu Jules und strich ihr über die Schulter, bis sie ihren Kopf hob und erst jetzt zu registrieren schien, dass ihr Bruder zurück war. "Du hast deinen neuen Job ja früher angefangen, als gedacht." Alvaro brauchte ein paar Sekunden, ehe er verstand, dass Gabe ihn angesprochen hatte und nicht Jules. Unter Gabes vorsichtigen Blicken legte er die Snacktüte vor sich auf den Tisch und erhob sich von dem Polstermöbel. Gabes betont neutraler Gesichtsausdruck entglitt ihm kurz als ihn die Trostlosigkeit ihrer Situation hier übermannte, die es überhaupt nötig machte, dass jemand auf seine ältere Schwester aufpassen musste, und er wandte sich lieber wieder Jules zu, die ihre Umgebung wie immer gekonnt ausblendete, ohne darin zu versinken. Sie war wie eins dieser Insekten, die auf dem Wasser laufen konnten, ohne unterzugehen. "Danke, dass du auf sie aufgepasst hast." "Ist doch selbstverständlich", wiegelte Alvaro ab. "Hier nicht..." Gabe verließ das Wohnzimmer und betrat das Bad. Wenig später kam er mit einer flachen Box zurück, deren durchsichtigen Deckel er aufschob und die kleinen darunter liegenden, in Tagesabschnitte aufgeteilte Fächer Jules hinhielt, die das erste Mal seit Erscheinen ihres Bruders aufsah. Zögernd nahm sie eine kleine Tablette aus der Box und hielt sie zwischen Zeigefinger und Daumen, als warte sie erst noch auf Gabes Okay, sie zu schlucken. "Davon wusste ich nichts", murmelte Alvaro bedrückt. "Woher auch?", war die knappe abgeklärte Entgegnung, aus der die Resignation deutlicher sprach, als Gabe es vermutlich beabsichtigt hatte. Jules sah auf die Tablette in ihrer Hand. Dann hoch zu Gabe, der unkonzentriert zwischen ihr und Alvaro hin und her sah. Er ahnte scheinbar nicht, dass sie seine Nervosität sehr wohl spürte, die er ständig zu unterdrücken versuchte, wenn sie anwesend war. Es war wie stetiges Blätterrauschen um sie herum, in einer Gegend, in der außer Unkraut nichts Grünes wuchs, und es irritierte und ängstigte sie. Sie schaute zu Alvaro, der schräg hinter Gabe stand und offensichtlich keine Ahnung hatte, was hier vor sich ging. Er lächelte ihr zu, als er ihre Blicke bemerkte, aber diese minimale Geste war vorüber, noch ehe sie bis Zwei zählen konnte. Gabes rastlos umherschweifende Augen kamen endlich wieder bei ihr an. Und leider blieben sie an ihr haften, bis sie endlich ihre Hand zum Mund hob und die Tablette auf ihre Zunge legte. Das erleichterte Lächeln ihres Bruders erwidernd, stand Jules von ihrem Sitzplatz auf. "Ich lege mich hin", verkündete sie leise und strich sich eine Haarsträhne aus den Augen. "Aber du musst mir unbedingt noch das Dümmste erzählen, das du getan hast." "Beim nächsten Mal", versprach Alvaro und vermied es, Gabe anzusehen, dessen Gesicht sich ihm gerade zuwandte. Noch ehe Gabe den Gedanken zu Ende bringen konnte, was hier während seiner Abwesenheit vor sich gegangen war, spürte er schon die Hand, die sich zwischen seine Schulterblätter legte und ihn mit Nachdruck zur Küchentheke hin lenkte. Und während er sich gegen die hartnäckige Berührung zu sträuben versuchte, verlagerte sich die Position eben dieser Hand auf seine Schulter, wo sie nur noch fester zupackte, bis Gabe schließlich stumm gehorchte. Jules löste die Kordel des Vorhangs am Kopfende des Bettes aus ihrer Verankerung und zog den blickdichten Stoff vor ihre Schlafstätte. Im gleichen Moment, als sie sich auf der Bettkante niederließ, hielt sie sich eine Hand vor den Mund und spuckte die Tablette hinein, die sie so gut wie möglich auf einer weiter hinten gelegenen Stelle ihrer Zunge balanciert hatte, ohne dem Schluckreflex nachzugeben. Gerade noch rechtzeitig, dachte sie und sah auf das halb aufgelöste Medikament in ihrer Handfläche hinab. Sie musste vorsichtiger sein. Gabe würde ab sofort besser aufpassen. Und Alvaro wusste jetzt auch Bescheid.   Gabe war offensichtlich nicht bewusst, wie kaputt er aussah und sich benahm, als er im Zeitlupentempo auf einem der hohen Barhocker vor der Küchentheke Platz nahm, doch dass ihm die Pizzakartons und Schalen nicht auffielen, die sich genau in seinem Blickfeld neben dem Kühlschrank türmten, war für Alvaro Bestätigung genug, wie es ihm gerade ging. Ohne zu fragen, was er trinken wollte, stellte Alvaro ein gefülltes Glas vor Gabe, der es auch prompt zu seinem Mund hob und bis zur Hälfte leertrank. Wie weggetreten sah er Alvaro dabei zu, wie der irgendeine Pasta auf einen Teller häufte, in die Mikrowelle stellte und die Tür davon zuschlug. Er konnte noch nicht mal gegen die Benutzung der Mikrowelle protestieren, weil ihm Jules' wochenlang darin vergessene Lasagne noch immer viel zu sehr in Erinnerung haftete, doch das Gerät war schon längst gesäubert und so schwieg er einfach und sah dem Timer beim Ablaufen zu. Als der Teller mit dem erwärmten Essen vor ihm stand und der heiße Dunst davon in sein Gesicht stieg, blinzelte Gabe das erste Mal seit langem wieder. Der heiße Käse warf dieses Mal gutduftende Blasen und die Kräuter in der Tomatensauce ließen seinen Magen knurren. "War das LaRues Aufgabe?" Ohne aufzusehen nickte Gabe und schüttelte gleich darauf mit dem Kopf, als er es sich anders überlegt hatte. "Eigentlich nicht. Es kam einfach so dazu." Er teilte die Pasta mit der Gabel, damit sie etwas abkühlen konnte. "Er hat sich das alles aber selbst zugeteilt." "Jules hat eine Ärztin erwähnt." Gabe lachte tonlos auf. Ja, natürlich. Er schob sich eine Gabel voll Pasta in den Mund und sah zu Alvaro, der sich gerade selbst etwas zu trinken eingoss und gleich Gabes halbleeres Glas wieder auffüllte. Natürlich war das Thomas zu verdanken, dass Jules endlich die Behandlung bekam, die sie gebraucht hatte. Während er selbst noch keinen Schimmer gehabt hatte, wie ernst ihr Zustand war, hatte Thomas sie dieser Ärztin vorgestellt und danach jede einzelne Rechnung bezahlt, ohne jemals ein Wort darüber zu verlieren. Jede verdammte Rechnung. Nachdenklich sah Alvaro zu, wie sich der Teller vor Gabe zu leeren begann. So fürsorglich kannte er LaRue gar nicht. Schön, er hatte immer für alle gesorgt, egal, ob Familie oder Angestellte - aber mit jemandem persönlich zu einer Ärztin zu fahren? Das hier war eine neue, Alvaro völlig unbekannte Seite an seinem Boss, aber er verstand ihn. Warum er das getan hatte. Warum er sich um die beiden Geschwister gekümmert hatte. Er war selbst total unvorbereitet in diese Sache gerutscht und zwar so schnell, dass er es gar nicht hatte aufhalten können. Und genau so musste es LaRue gegangen sein. Alvaro sah zum Kühlschrank hinüber, wo der Flyer aus dem Abyss wieder an seinem Platz hing. Ganz kurz kam ihm der Gedanke, Gabe darauf anzusprechen, aber so wie alles bisher abgelaufen war, wenn er zu viele Worte über etwas verloren hatte, blieb er wohl besser bei seiner Strategie und tauchte einfach dort auf, damit Gabe gar nicht erst die Chance bekam, ihm weiter etwas zu verheimlichen. "Wir müssen über den Umzug reden." Gabe legte das Besteck beiseite. Der Teller war fast leer und er fühlte sich zum ersten Mal seit langem wirklich satt. Er trank einen Schluck und ließ dabei Alvaro nicht aus den Augen, der ihn ernst anblickte. "Hast du da nicht eine Kleinigkeit vergessen? Zum Beispiel, mir endlich zu sagen, vor wem oder was du uns in Sicherheit bringen sollst?" "Jules geht es hier nicht gut, das ist doch Grund genug, oder?" Gabes trockenes Lachen schaffte es kaum aus seinem Mund heraus. Es klang wie ein Knurren. War ja klar, dass Alvaro es auf dieser Schiene versuchte. Spiel noch etwas mit dem ohnehin schon labilen Bruder, der sowieso schon nicht mehr wusste, wie er das alles schaffen sollte, bis ihm irgendwann alles um die Ohren flog. Noch ein paar Vorwürfe hier, noch ein bisschen schlechtes Gewissen da... "Wir müssen nicht nur darüber reden, sondern endlich etwas tun." Alvaro nahm Gabes Teller und stellte ihn beiseite. "Gibt es Probleme? Mit Nate? Hat er abgelehnt? Wenn ja, finden wir was anderes für euch." "Nate doch nicht." Gabes hohl tönendes Lachen verlor an Klang, kaum dass es seinen Mund verlassen hatte. Wenn es nach Nate ginge, wären Jules und er schon längst dort. Das war die einzige Gemeinsamkeit zwischen Nate und Alvaro. Nur benahm sich Nate mittlerweile wie eine Glucke, die ihr Gelege bewachte und bei Alvaro war er sich immer noch nicht sicher, ob er nicht eher der Fuchs in dieser Konstellation war, der das Nest zu plündern vorhatte... Unweigerlich dachte er an Liam und seinen Plan, den er erst noch durchziehen wollte. Aber davon konnte er Alvaro kaum erzählen, dessen äußerlich gefasste Blicke nur auf eine Lücke in Gabes sorgfältig errichtetem Schutzwall warteten. Es war auch gar nicht so einfach, die eigenen Dämonen im Zaum zu halten, während man damit beschäftigt war, die der Anderen zu befreien und sich dann alle gleichzeitig durch den schmalen Spalt, den man ihnen offenhielt, zu drängen versuchten. Zugegeben, die Angst vor irgendeiner diffusen lauernden Gefahr, vor der Alvaro ihn und Jules in Sicherheit bringen wollte, war ein Witz gegen das, was ihn schon längst umgab. Und da er sowieso keine Ahnung hatte, wie die Sache mit Liam ausging, war es auch nicht wichtig, aber jedes Mal, wenn er an diesem Punkt ankam, fiel ihm erneut Nates Einwand ein, dass er keine Lust hatte, Gabes Leiche in ihrem Appartement zu finden. "Wäre es in Ordnung, wenn ich Jules deine Nummer gebe? Für den Fall, dass mal wieder etwas mit ihr ist. Ein Notfall, oder so. Ohne Auto bin ich nicht so schnell bei ihr und ich kenne ja Nates Pläne nicht immer." Das letzte war schamlos gelogen... Alvaros Mundwinkel bogen sich zu einem kaum merklichen Lächeln. "Sie hat meine Nummer schon", gab er offen zu. Das erste Mal fühlte Gabe sich nicht übergangen. Er war erleichtert, dass immerhin einer von ihnen vorausschauend plante. "Ich regele das mit dem Umzug." "Mach das." Alvaro umrundete unter Gabes Blicken die Küchentheke. Er nahm seine Jacke, die über dem leeren Barhocker neben Gabe hing und warf sie sich locker über eine Schulter. Er sah zu Gabe, der in der ganzen Zeit, die sie in der offenen Küche verbracht hatten, noch immer nichts zu dem Chaos aus Pizzakartons und Silberschalen oder der Herkunft des Essens, das er gerade zu sich genommen hatte, gesagt hatte. In einer fast lichtlosen Umgebung haftete neuerdings etwas an ihm, das ihn von alledem abschirmte. Eine Art zweiter, dunklerer Schatten begleitete ihn, der ihm die Sicht versperrte. Alles, was Alvaro hoffen konnte war, dass Gabe Jules zuliebe handelte.     Liam tauchte wie eins dieser halbblinden Tiefseemonster vor Gabe auf, das mit seinen milchig trüben Augen in den kargen Untiefen des Abyss umherstreifte und den scheinbar leblosen Grund auf der Jagd nach Beute sondierte. Gerade noch wähnte man sich alleine, da spürte man wie sich etwas näherte, wie etwas außerhalb der Sichtweite plötzlich im Wasser Turbulenzen verursachte, die einen zitternd erreichten, ohne dass man die Ursache sehen konnte, was es in Bewegung versetzt hatte. Und wenn man es sah, war es zu spät. Aber alles hatte einen Schwachpunkt. Und Liam hatte mehrere. War er perfekt an seine selbstgeschaffene feindselige Umgebung hier angepasst, musste man ihn dort nur herausholen und schon verlor er die Fähigkeit, sich darin mit dieser vollkommenen Selbstüberschätzung zu bewegen, die ihn wie eine nicht abreißende Strömung umgab. Das hatte er Gabe beim letzten Mal bestens bewiesen. Und heute würde er es auch tun, auch wenn er es vielleicht noch nicht ahnte. Seine Beute, die er sich hier vor aller Augen hielt, würde sicher nicht brav in ihrem Behälter auf ihr Ende warten. Liam trug wie immer sein fast schon obligatorisches schwarzes Hemd zu einer schwarzen Anzughose und vervollständigte damit das Bild eines Lebewesens, das nicht auf Licht angewiesen war. Nicht mal Bestatter trugen diese düstere Kombination, aber Liam störte das ebenso wenig, wie die Tatsache, dass Gabe ihn mit Blicken durchbohrte, sobald sie sich sahen. Auch jetzt, als Gabe gerade die Leiter zur Brücke über der Tanzfläche hinaufklettern wollte und in der Bewegung innehielt, trafen Liam diese eisigen Blicke. Als wüsste Gabe von dem Telefonat, das Liam kurz nach seinem Auftritt in seinem Büro geführt hatte. "Warum bist du nicht zur Probe gekommen?", begrüßte Liam Gabe äußerlich gefasst. Wenn ihn die ganzen Ereignisse, die seit der Premiere des Feuerfischs wie ein Erdrutsch über ihm zusammengebrochen waren und ihn weggerissen hatten, noch einen Funken beeindrucken würden, dann hätte er sich wahrscheinlich knapp dafür entschuldigt, aber so hatte Gabe nicht mehr als ein müdes Lächeln für Liams Theater übrig. "Du bist es nicht gewohnt, dass man dich versetzt, was?" "Ich war nicht hier", war Liams lapidare Erklärung, die bei Gabe kurz für Erstaunen sorgte, das er ausnahmsweise mal nicht so hartnäckig verbergen konnte. "Es hätte ja was passiert sein können. Gibt ja genug Möglichkeiten." Jetzt war klar, dass Liam nicht besorgt war. Er versuchte nur gerade die Machtverteilung, die ihm durch Gabe kurzzeitig entglitten war, wieder zu seinen eigenen Gunsten zu lenken. "Welche dieser Möglichkeiten hattest du dir denn erhofft?" Liam ließ sich mit der Antwort Zeit. Er wusste, wann schweigen taktisch klug war, so viel war sicher. "Keine", entgegnete er nach seiner wirkungsvollen Kunstpause. Gabe schnaubte verächtlich. Als ob er Liam das abkaufen würde... "Möchtest du nach der Show noch mal eine Privatvorstellung?", fragte er lächelnd, aber Liams Blicke, die schnell über Gabes Körper huschten, weil er sie seit dem Abend in seinem Büro offensichtlich nicht mehr so gut unter Kontrolle hatte, sprachen deutlicher als Worte, da konnte er weiter so eisern schweigen wie er wollte. Gabe wandte sich von seinem Gegenüber ab und griff nach dem Geländer der Leiter, um endlich aus dieser seelenlosen Zone zu entkommen, als er Liams Hand an seinem Oberarm spürte, die ihn daran hinderte, die Metallkonstruktion zu erklimmen. Wenn Liam dachte, dass er Angst vor ihm hatte, irrte er sich. Ohne das Geländer loszulassen, sah Gabe zu Liam, dessen Mimik nun etwas angestrengtes angenommen hatte. "Ich war es nicht", rückte Liam schließlich mit der Sprache raus. Dafür also diese Show... Jetzt ließ Gabe das Geländer los und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Das kalte Metall drückte gegen seine Schulterblätter. "Ich habe auch nie gesagt, dass du es warst, sondern dass du etwas damit zu tun hattest." Seine Stimme klang wohl so unbarmherzig, dass Liam endlich seine Hand von seinem Oberarm nahm. "Was es auch war und was du damit zu tun hattest, kommt schon noch raus, keine Sorge. Und bis es so weit ist, wirst du keine Ruhe vor mir haben - bis ich die Antwort weiß!" Sein Herz schlug Gabe bis zum Hals, während er sein offensichtlich beeindrucktes Gegenüber keine Sekunde aus den Augen ließ. Er hatte Liam noch so vieles zu sagen, aber er musste sich bremsen, durfte seiner Wut nicht noch mehr Raum geben, sonst ruinierte er sich alles. Liams Körper straffte sich wieder. Sein Kopf hob sich und das angestrengte wich aus seinem Gesicht, als käme er gerade wieder zu Sinnen. In seinen Augen schimmerte der Zorn auf sich selbst und Gabe, der ihn dazu brachte, so erbärmlich kopflos zu reagieren. Genau das war es, was Gabe wollte. Er wollte, dass sich Liam wehrte - gegen Gabe, gegen alles, was mit ihm zu tun hatte. Bis zu dem Punkt, an dem er merkte, dass das schon seit dem Moment sinnlos war, als er sich dazu entschlossen hatte, Thomas zu schaden. Und dann wollte er ihm dabei zusehen, wie er in seiner eigenen Wut unterging und darin ertrank. Das zahme Lächeln, das nun Gabes Lippen umspielte, kostete ihn dieses Mal nicht das kleinste bisschen Würde, nichts daran war gespielt. Dass es nicht erwidert wurde, war der Lohn dafür. "Wir sehen uns später." Gabe wandte sich wieder der Leiter zu und kletterte daran in die Höhe.     Im Vergleich zum Hydra war das Abyss wieder eine völlig andere Kategorie, wie Alvaro schnell merkte, nachdem er durch das düstere, spärlich beleuchtete Labyrinth des Eingangsbereichs schritt, das mit seinen klaustrophobisch eng beieinander liegenden Wänden, die das Treppenhaus nach unten säumten, eher wie das Gewölbe zu einem untergegangenen Verlies wirkte, zu dem man passenderweise zuerst mal in die Tiefe musste. Hier war es bei weitem nicht so profan und vulgär wie im The Gorge, was auch hauptsächlich an der kaum vorhandenen Beleuchtung lag und sich in den schwarz gestrichenen Wänden widerspiegelte, aber eine ähnliche Aura umgab das Abyss - auch wenn sie hier nicht so offensichtlich zu sehen war. Sie kroch mit dem Kunstnebel auf einen zu, der einen schon am Fußende der Treppe entgegen kam und begleitete seine Besucher durch das Gewirr aus Sitzgruppen, die wie Hindernisse im Dunkeln wirkten, an denen man hängen bleiben sollte. Zum einen wollte man wohl nicht alles sofort preisgeben, was hier lief und zum anderen sollte man erst noch eine Weile durch diesen eisigen Schlund streifen, ehe man irgendwo angespült wurde. Und Alvaro wusste, wo sein Ziel lag, auch ohne dass ihn die Lichtleisten im Boden den Weg zeigten. Sein Ziel lag in der Antwort auf die Frage, warum das Abyss die letzte von LaRue notierte Adresse im Kalender war.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)